Der Jubel ist verfrüht. Die Bewerbung von Chemnitz als KULTURHAUPTSTADT EUROPAS ist erst dann erfolgreich, wenn sich mehr Menschen in der Stadt über den Titel freuen als nur die ansässigen und angereisten Künstler und mandatierten Imagepfleger. Die haben ihren Auftrag klasse erfüllt. Und es gibt Hoffnung, dass sie es nicht vermasseln. Der schon fürs ungarische Pécs erfolgreiche Bewerbungschef bittet die Bevölkerung der Stadt in der Lokalzeitung nämlich erst mal um Vertrauen, dass auch was für sie dabei sein wird.
Die Anerkennung für intellektuelle Clubgüter ist innerhalb des Clubs, wie bei einer internationalen professionellen Jury, leichter zu erringen. Die Kunst besteht nun darin, dies auch beim Nachbar und der Mitbürgerin zu schaffen. Bis 2025 haben die Kulturherschaffenden Zeit, die breite Chemnitzer Bevölkerung jenseits der eigenen Peergroups für ihre Leistungsschau zu interessieren. Das Bewusstsein für diese Notwendigkeit fehlt leider bei manch ortsungebundenem Bohème.
Vielleicht war das bei Lew Kerbel gar nicht anders, als er seinen Auftrag erfüllte und die Karl-Marx-Städter vor den Kopf stieß, indem er ihnen 1971 einen anderswo bestellten Riesenkopf vor den Latz knallte. Den überdimensionierten Schädel von Marx haben die Einwohner über Jahrzehnte irgendwie liebgewonnen. 1990 wollten sie ihn zwar am liebsten abreißen. Vor dem Schicksal bewahrten ihn damals nur die Entsorgungskosten von 40 Tonnen Masse Kulturgeschichte, kommunistisch manifest verankert. Beim jetzt hinzugekommenen überdimensionierten Darm von Marx ist das nicht zu erwarten.
Die Organisatoren können natürlich der Versuchung nachgeben, mit politisch wohlfeilen Aktionen Spießbürgerreflexe zu provozieren. Die Leute außerhalb der Szene haben ein feines Gespür dafür, ob sie als erwachsenes Publikum angesprochen oder als Projektionsfläche für politische Anwürfe benutzt werden. Das würde dann gewiss ein Fest für ein Publikum anderswo, nur für die Stadt kein Gewinn.